Couch - Wiener Kreis für Psychoanalyse und Selbstpsychologie

Psychoanalyse & Selbstpsychologie

There is no such thing as a baby.

Originalzitat: "There is no such thing as an infant ... without maternal care one would find no infant."
D.W. Winnicott (1960)

Wie ist die psychoanalytische Selbstpsychologie entstanden?

Die Selbstpsychologie wurde als Weiterführung der Psychoanalyse Sigmund Freuds in den 1960er und 1970er Jahren von Heinz Kohut (1913, Wien - 1981, Chicago) begründet. Das "Selbst" des Menschen, wie es sich von seinen Ursprüngen her im Austausch mit den frühen Bezugspersonen entwickelt, steht im Mittelpunkt des selbstpsychologischen Interesses und der selbstpsychologisch-psychoanalytischen Arbeit.

Charakteristika der Selbstpsychologie

Der psychische Konflikt, von der klassischen Psychoanalyse im Zentrum der Theorie und der Behandlung gesehen, wird im Verständnis der Selbstpsychologie erst auf Grund seiner Vorgeschichte verstehbar und behandelbar: Es sind die Beziehungen vor allem der frühen Kindheit, die zum Aufbau des Selbst mit seinen Möglichkeiten, aber auch mit seinen Störungen geführt haben. In einer grundlegend gewandelten Sicht auf den Menschen, nämlich dass er in seinem Ursprung, seiner Entwicklung und seinem ganzen Sein eingebettet ist in wechselseitige Beziehungen, treffen sich heute die selbstpsychologische Psychoanalyse und die angrenzenden modernen Wissenschaften.

Die "Psychoanalytische Selbstpsychologie" ist eine Psychoanalyse, die sowohl Freud als auch insbesondere den wissenschaftlichen und therapeutischen Fortschritt seit Freud berücksichtigt und deren Theorie und Praxis von diesen Entwicklungen getragen wird. Anders als die mechanistisch-individualistische Triebtheorie der "klassischen Psychoanalyse", die Patient*innen unbemerkt zu Objekten macht und sie scheinbar "objektiv" beobachtet, sieht die Selbstpsychologie den Menschen von seiner Geburt an als ausgerichtet auf Beziehungen. Entsprechend verstehen sich auch die selbstpsychologische Analytiker*innen als in die Beziehungen mit ihrer Klient*innen verwoben und nicht als außenstehende und objektivierende Beobachter*innen.

Die Aufmerksamkeit in den Analysen gilt dem subjektiven Erleben in Beziehungen, die das Erleben eines Menschen formten und formen, und insbesondere dem subjektiven Erleben in der therapeutischen Beziehung. Beide an der therapeutischen Beziehung Beteiligte bringen ihre je subjektive Geschichte, und wie sie gelernt haben, ihr Erleben zu organisieren, in den aktuellen analytischen Prozess ein. Beide beeinflussen einander wechselseitig. Wir denken und fühlen nicht losgelöst vom Einfluss des Anderen, und der Andere denkt und fühlt nicht losgelöst von uns. Das bedeutet für den analytischen Prozess, dass der*die Analytiker*in versuchen muss, ihren ständigen, unvermeidlichen, und zunächst meist nicht bewussten Einfluss auf den*die Patient*in zu erkennen und zu berücksichtigen. Damit wird der autoritär geführten Analyse eine entschiedene Absage erteilt. Die therapeutische Beziehung ist in ihrer Wechselseitigkeit zu einer symmetrischen geworden. Sie bleibt nur insofern asymmetrisch, als die Verantwortung bei der Analytiker*in bleibt.

Diese entscheidende Veränderung im Verständnis des therapeutischen Prozesses und in der Einstellung de*der Analytiker*in beginnt mit Heinz Kohut, der in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Theorie und Praxis der Selbstpsychologie entwickelte.

Konzepte und Grundbegriffe der Selbstpsychologie

Mit der Entwicklung der Selbstpsychologie (Heinz Kohut) hat sich die Psychoanalyse in Theorie und Praxis grundlegend geändert. Wurde im klassisch analytischen Verständnis der (ödipale) Konflikt als zentral für Entwicklung und Störungen gesehen, so ist es in der Selbstpsychologie die Konstituierung des Selbst. Die Entwicklung eines kohärenten und vitalen Selbst hängt von der Präsenz, Empathie und Responsivität der Bezugspersonen ab. Aufgrund unzureichender elterlicher Empathie und geringer emotionaler Verfügbarkeit kann sich ein brüchiges, unsicheres und fragmentiertes Selbsterleben und, als dessen Manifestationen, psychische Störungen entwickeln.

Das Ziel der Selbstpsychologie ist die Entwicklung und Stärkung des Selbsterlebens und sie gewinnt durch ihr neues Verständnis vom menschlichen Leiden auch neue Zugänge für seine Behandlung. Mit den neuen theoretischen Konzepten und dem damit einhergehenden Wandel in der Haltung des*der Analytiker*in wurde auch die psychoanalytische Sprache zu einer anderen. Bestehende psychoanalytische Begriffe bekamen dem gewandelten Verständnis entsprechend neue Konnotationen, und neue Begriffe wurden für die neuen Zugänge kreiert.

Das Selbst

Das Selbst ist in erster Linie ein phänomenologischer Begriff, der die emotionale Verfasstheit des Menschen meint, aus der heraus die subjektive Art und Weise, wie er sich selbst und den Anderen erlebt, organisiert wird. Das Selbsterleben entwickelt sich in den frühesten Eltern-Kind-Interaktionen aber auch lebenslang in allen wichtigen Beziehungen. Es sind die Präsenz und Verfügbarkeit der Bezugspersonen sowie deren empathisch akzeptierenden Qualitäten im wechselseitigen Austausch, die unser Selbsterleben formen. Nämlich, wie weit wir uns als ganz und als vitales Zentrum unseres Tuns erleben, wie weit wir Ziele haben und uns über unsere Erfolge freuen können, oder ob wir uns geschwächt, fragmentiert und leer fühlen. Entsprechend bemüht sich der*die selbstpsychologische Analytiker*in, durch empathisches Verstehen und wohlwollendes Akzeptieren eine sichere therapeutische Beziehung zu fördern, in der neue Beziehungserfahrungen entstehen und integriert werden können.

Das Selbstobjekt

Anders als Freud geht Kohut von einem Bedürfnis des Menschen nach Beziehung von Geburt an aus. Das Selbst kann sich von Anbeginn nur im Austausch mit anderen Menschen entwickeln. Entscheidend sind dabei die empathischen und responsiven Qualitäten der Bezugsperson. Wird die Bezugsperson als das Selbsterleben stärkend und vertiefend erlebt, spricht Kohut von einem Selbstobjekt, von Selbstobjekterleben und von Selbstobjektbeziehung. Als wesentlich das Selbsterleben förderndes Moment erkennt er ein Gefühl von eins Sein mit der Bezugsperson. Der Mensch braucht das Erleben von Ungetrenntheit und Verbundenheit, um ein kohärentes Selbsterleben entwickeln zu können, und er braucht sein ganzes Leben lang Selbstobjektbeziehungen, um ein stabiles Selbst aufrechterhalten zu können.

Kohut hat eine Entwicklung des Selbstobjektes von einem "archaischen Selbstobjekt" zum schließlich "reifen Selbstobjekt" gesehen. In der frühesten Entwicklung und nach chronisch defizitären Versagungen besteht ein Bedürfnis nach archaischen Selbstobjektbeziehungen, in denen dem Individuum nur die Selbstobjektfunktion des Anderen und die unmittelbare emotionale Versorgung von Bedeutung sind, nicht der Andere als ganze Person. Das reife Selbstobjektbedürfnis gilt später der stabilisierenden Selbstobjektfunktion als nur einem Moment in der komplexeren Beziehung zum Anderen.

Das Bedürfnis nach Selbstobjekten erscheint im therapeutischen Prozess als Selbstobjektübertragung, wobei die nun an den*die Analytiker*in gerichteten Selbstobjektbedürfnisse als Versuche zu verstehen sind, Entwicklungen nachzuholen. Voraussetzung dafür ist, dass sich der*die Klient*in auf diese Übertragung, also auf ihre nun der Analytikerin geltenden Sehnsüchte, einlassen kann, was wiederum die Sicherheit einer einfühlsamen therapeutischen Beziehung voraussetzt. Entwickelt sich eine solche Selbstobjektbeziehung und fühlt sich der*die Klient*in in der Folge verstanden, in ihren Gefühlen erkannt und angenommen, und erlebt er*sie damit eine Stärkung ihres Selbst, so ist der Boden bereitet, dass es zur Verinnerlichung dieser regulierenden Funktionen des Selbstobjektes in das eigene Selbst kommen kann. Veränderung wird möglich.

Die empathisch-introspektive Untersuchungsmethode

Schon sehr früh konzeptualisierte Kohut das einfühlende Verstehen, die Empathie, als einzige psychoanalytische Methode, um das subjektive Erleben des Anderen zu erschließen. Die kontinuierliche stellvertretende Introspektion wurde das wesentliche Prinzip der therapeutischen Haltung in der selbstpsychologischen Analyse. Sie besteht in dem ständigen Bemühen, sich in die subjektive psychische Realität des*der Patient*in einzufühlen, in seine*ihre Gefühle, seine*ihre oft nicht bewussten Erwartungen und Überzeugungen, in seine*ihre Ängste und Befürchtungen. Diese Haltung ständiger Aufmerksamkeit für das unmittelbare subjektive Erleben wird insbesondere dann wichtig, wenn wir in schwierigen therapeutischen Situationen dazu neigen, das Verstehen von Emotionen zugunsten von Erklärungen und inhaltlichen Interpretationen aufzugeben.

Über die Bedeutung als Untersuchungsmethode hinaus wirkt Empathie an sich oft heilend, da gelingende Begegnung, Verstanden- und Akzeptiert-Werden, nicht immer der validierenden Worte bedarf.

Heilung und Veränderung

Heilung und Veränderung werden auf der Basis einer tiefen emotionalen Bezogenheit im sicheren Rahmen der therapeutischen Dyade möglich. Muster, die die Wahrnehmung unbewusst prägen, können in dem verstehenden und wertschätzenden Kontext bewusst werden, neue emotionale Perspektiven können entstehen, und damit wird das Selbsterleben umfassend erweitert, vertieft und gestärkt.

Intersubjektivität

Der Gedanke, dass es die therapeutische Beziehung ist, die heilt, und dass Beziehung wechselseitige Bedingtheit bedeutet, zieht sich von Anfang an durch die Geschichte der Psychoanalyse. Diese Vorstellung hatte zunächst keine*n einzelne*n Autor*in, sondern tauchte bei verschiedenen Analytiker*innen in unterschiedlichen Denkgebäuden auf, immer als Kontrapunkt zum Mainstream der Psychoanalyse. Einer dieser Analytiker*innen war Kohut. Seiner Beschreibung der analytischen Haltung als empathisch und introspektiv, seiner revolutionierenden Idee des Selbstobjektes sowie der Wichtigkeit, die er Empathiefehlern und ihrer Entstehung in der therapeutischen Dyade, beimaß lag ein implizites Verständnis von Wechselseitigkeit zugrunde. Zur Erkenntnis dieser wechselseitigen Abhängigkeit des emotionalen Erlebens haben darüber hinaus empirische Untersuchungen in angrenzenden Wissenschaften, wie die empirischen Säuglingsforschung, die Bindungsforschung, die Neurowissenschaften und vieler andere mehr, eine Unzahl von Ergebnissen beigebracht, die auch die grundlegende Bedeutung von Beziehung und Wechselseitigkeit für den Menschen belegen.

In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat schließlich die sogenannte relationale Wende das analytische Denken grundlegend verändert. Erleben und Verhalten werden nun nicht mehr als Manifestationen eines Trieb- und Abwehrgeschehens verstanden, sondern als von allem Anfang an abhängig vom Kontext. Wesentlichen Anteil an dieser umwälzenden Wende im analytischen Denken hatten selbstpsychologische Theoretiker*innen, die das Konzept der Intersubjektivität entwickelten.

Das Konzept der Intersubjektivität und des intersubjektiven Feldes beschreibt das menschliche Leben, die Entwicklung des Individuums und speziell den analytischen Prozess als kontextuell. Das intersubjektive Feld wird als Überschneidung der beiden Subjektivitäten in der therapeutischen Dyade verstanden. Es besteht in einer hochkomplexen wechselseitigen Beeinflussung und wechselseitigen Regulierung auf vielen vorwiegend nicht bewussten Ebenen. Das heißt, das je aktuelle Erleben dem*der Patient*in im therapeutischen Prozess wird nicht nur von den in seiner*ihrer Geschichte erworbenen organisierenden Prinzipien bestimmt, sondern es wird auch in hohem Maße von der Subjektivität der Analytikerin beeinflusst. Und umgekehrt.

Dieses Konzept hat tiefgreifende Folgen für die therapeutische Haltung des*der Analytiker*in. Nach wie vor geht es um das Verstehen der Subjektivität des*der Patient*in, um die Einfühlung in dessen*deren Selbsterleben, nun aber vor dem Hintergrund eines Wissens um den kontinuierlichen Einfluss des eigenen bewussten und nicht bewussten Erlebens auf das Erleben des*der Patient*in. Diese Prozesse der wechselseitigen emotionalen Abstimmung und Regulierung fordern eine hohe Bereitschaft des*der Analytiker*in, sich ihnen zu öffnen. Sie gehen äußerst schnell und vorwiegend nicht bewusst vor sich. Meist können die Schritte in diesem wechselseitigen Fortschreiten nur erahnt und nur zeitlich verzögert wahrgenommen werden, und der Weg sowie seine Resultate sind nicht vorhersagbar. Wir begeben uns auf eine gemeinsame Reise, deren Ziel laufend verhandelt wird. Vorgefasste Denkfiguren würden diese Reise in einer Sackgasse enden lassen. Auch kommt der*die Analytiker*in nicht umhin, in der Öffnung für die Subjektivität des*der Patient*in ihren eigenen, bis dahin oft nicht deutlich erlebten Ängsten zu begegnen, sowie die Empathiefehler zu erkennen, die der Vermeidung dieser eigenen Ängste dienen. Sich selbst in der Begegnung mit dem*der Patient*in verstehen zu lernen, gerade auch dort, wo das Angst macht, eröffnet auch dem*der Patient*in die Chance, in neuer Weise zu erleben und zu verstehen. Die Veränderung in dem*der Analytiker*in geht oft der Veränderung in dem*der Patient*in voraus.

Das gemeinsame Wandern auf den intersubjektiven Wegen macht unsere Arbeit zu einem Wagnis, das immer wieder auch Selbstzweifel und Ängste hervorruft. Zugleich aber bereitet es Freude, miteinander den Prozess der kreativen Erweiterung, Vertiefung und Festigung zu erleben.

Die Offenheit der Theorie für das Neue

Zu gegenwärtigen Entwicklungen in der Selbstpsychologie

Die Intersubjektivitätstheorie ist von selbstpsychologisch orientierten Analytiker*innen entwickelt worden und sehr schnell zu einem wesentlichen Moment der Selbstpsychologie geworden. Dadurch ist es zu einem lebendigen Prozess im selbstpsychologischen Denken gekommen, der wie kreativen Veränderungen immer, auf allen Ebenen vor sich geht, im individuellen Denken und im Austausch, nicht klar bewusst bis theoretisch formuliert, mit drängenden Intentionen und zugleich ohne vorbestimmte Resultate. Dabei scheint ein wesentliches gegenwärtiges Thema zu sein, wie wir einander in der therapeutischen Beziehung begegnen, so dass sich die Freude an der Zugehörigkeit und zugleich damit die Freude sich zu unterscheiden entwickeln können. Das theoretische Verständnis dazu, sowie die Konsequenzen für die Praxis, scheinen sich gerade aus dem Zusammenspiel von Intersubjektivitätstheorie und selbstpsychologischem Denken zu entwickeln.